Wie können wir entscheiden?
Komplexe Probleme wie Klimawandel, Nachhaltigkeit und Pandemiebekämpfung stellen die Menschheit vor herausfordernde Entscheidungen. Welche Rolle die Wissenschaft in diesem Spannungsfeld aus Wissen und Werten spielen kann, diskutierten Expert*innen bei der siebenten Ausgabe von "Umwelt im Gespräch" am 10.05.2022 im Naturhistorischen Museum Wien.

Die Veranstaltung "Evidenzbasiertes Entscheiden – Zwischen Wissen und Werten“ der Umwelt im Gespräch-Reihe konnte endlich stattfinden und lockte einige Interessierte in die Obere Kuppelhalle des Naturhistorischen Museums, Gastgeber der vom Forschungsnetzwerk Umwelt initiierten öffentlichen Diskussionsreihe. Der Verbund vernetzt über 250 Umweltforscher*innen aller Disziplinen und Levels an der Universität Wien.

„Die letzte Veranstaltung ist pandemiebedingt zwei Jahre her, umso mehr freue ich mich, dass wir heute hier sind“, eröffnet Markus Roboch, der wirtschaftliche Geschäftsführer des Naturhistorischen Museums und spricht damit wohl vielen Anwesenden aus dem Herzen. Die Pandemie ließ auch das Thema des Abends – evidenzbasiertes Entscheiden – medial an Fahrt aufnehmen und machte sich vor allem an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik bemerkbar. Aber auch in den Schwerpunkten des Museums zu Umweltbildung und der Ökologisierung des Hauses spielt wissenschaftliche Evidenz eine wichtige Rolle.

Auch Regina Hitzenberger, die Vizerektorin für Infrastruktur der Universität Wien, stimmt zu: „Es ist fantastisch, dass wir wieder gemeinsam hier sitzen können. Und dabei hat uns die Wissenschaft geholfen. In den letzten zwei Jahren ist uns wohl allen bewusst geworden, wie wichtig die Wissenschaft für die faktenbasierten Entscheidungen, die wir treffen müssen, ist. Auch in der Klimakrise, in der wir uns befinden, sind solche Entscheidungen notwendig.“ An der Universität Wien wird nun seit 657 Jahren daran gearbeitet, durch verantwortungsvolle Forschung die Grenzen des Wissens zu gesellschaftlich relevanten Themen auszuweiten. Außerdem wird an der Universität jungen Menschen das Rüstzeug mitgegeben, um evidenzbasiert entscheiden und handeln zu können.

Gleich zu Beginn weist Thilo Hofmann, Leiter des Forschungsnetzwerks Umwelt der Universität Wien, auf eine komplexe Problematik hin: „Wissenschaft kann Dinge nie zweifelsfrei klären, und sie muss diese Unsicherheiten auch klar kommunizieren. Aber sie bildet die Summe der Expertise ab, die von vielen, nicht nur einzelnen, erarbeitet wurde. Sie bietet eine Wissensgrundlage für mögliche Szenarien, unsere geteilte Wirklichkeit.“ Damit liefert Wissenschaft Orientierungsmöglichkeiten für individuelles und gesellschaftliches Handeln und eine Grundlage für gesellschaftspolitische Auseinandersetzung. Und genau dazu ist das Publikum des Abends herzlich eingeladen.

In ihrem Impulsvortrag umkreist die an der Universität Wien tätige Wissenschafts- und Technikforscherin Ulrike Felt die Frage, worauf unsere Entscheidungen basieren, unter der Prämisse, dass Evidenz keine Gewissheit liefert. „Die sogenannten vertrackten Problemen unserer Zeit – Klimawandel, Nachhaltigkeit, Pandemiebekämpfung – haben viele, miteinander eng verwobene Dimensionen, die gleichzeitig berücksichtigt werden müssen, bei oft uneindeutigen Wissensständen und wertegeladenen Debatten. Wer das Problem wie definiert, rahmt die Evidenz, die zu seiner Lösung herangezogen wird.“ Wichtig sind in diesen Entscheidungsprozessen Transparenz, verantwortungsvolle Teilhabe, langfristiges Denken und ein bewusster Umgang mit Unsicherheiten.

Einen wissenschaftlichen Umgang mit wissenschaftlicher Evidenz wünscht sich Kulturwissenschaftlerin Eva Horn von der Universität Wien auch von Politiker*innen, und nennt dabei die jahrzehntelange Forschung des Weltklimarates als Beispiel für Nicht- bzw. selektive Umsetzung wissenschaftlicher Evidenz. Als Forscherin zu wissenschaftsskeptischen sozialen Bewegungen betont sie gleichzeitig die politische Darstellung solcher Fakten als alternativlos, welche einen Trend zum „sich selber informieren“nähren, teils auch über pseudowissenschaftliche Quellen, die aber nicht als solche identifiziert werden. Wichtig sei es, einen kritischen Umgang mit Informationen zu erlernen: „Wie gehe ich mit Informationen um? Wie kann ich unterscheiden zwischen verlässlichen und weniger verlässlichen Informationen? Was ist eine kohärente Argumentation und was nicht?“

Petra Schaper Rinkel, Innovationsforscherin undProfessorin für Wissenschafts-
und Technikforschung des digitalen Wandels und Vizerektorin für Digitalisierung an der Karl-Franzens-Universität Graz, weist außerdem darauf hin, „dass Werte und Ziele in Entscheidungsprozessen oft implizit sind und als Selbstverständlichkeit behandelt werden. Stattdessen sollte neben der wissenschaftlichen Evidenz auch offengelegt und diskutiert werden, was die geteilten Werte und Ziele sind.“ Die Politikwissenschaftlerin kritisiert, dass immer mehr Forschungsgelder und damit auch Themenvorgaben aus der Politik kommen, und damit eine gewisse Agenda verfolgen. Sie plädiert für unabhängigere Wissenschaft und Einzug „radikaler Reflektion zukunftsgestaltender Fakten in Parlamenten.“

Auch Michael Wagner, vielzitierter Mikrobiomforscher an der Universität Wien, Mitentwickler der Gurgeltests, Experte für SARS-CoV-2-Teststrategien und COVID-19-Faktenchecker, welcher während der Pandemie der Gesellschaft laufend neue Erkenntnisse übermittelt und der Politik beratend zur Seite gestanden hat, sieht das Scharnier zwischen Politik und Wissenschaft als ausbaufähig. Besonders wichtig sei „die Transparenz, welche Expert*innen die Politik beraten, und welche wissenschaftliche Evidenz warum (nicht) übernommen wird.“ Auch bei der medialen Gegenüberstellung von Expert*innen gilt es, skeptisch zu sein: „Oft werden Expertisen als gleichwertig dargestellt, um ein vermeintlich ausgewogenes Meinungsbild darzustellen, obwohl nur eine*r der Expert*innen die notwendige Qualifikation hat. Dies nennt sich ‚false balances‘“.

Auch das Publikum war sehr daran interessiert, wie denn nun Wissenschaft kommuniziert werden könne, damit sie auch ankommt. „Wir müssen nicht nur das Wissen selbst, sondern auch den Prozess der Wissensproduktion transparent machen,“ sagte Ulrike Felt. Und Michael Wagner fügte hinzu: „Es muss auch möglich sein, Unsicherheiten offen zu kommunizieren, ohne damit das gesamte Wissen zu delegitimieren.“ Evidenzbasiertes Entscheiden erfordert demnach viel transparente Kommunikation von Wissenschafter*innen, Politiker*innen und Journalist*innen.

Was können Wissenschaft, Medien, Politik dafür tun? Die Veranstaltung endet mit vielleicht mehr Fragen als Antworten. „Schließlich soll das ‚Umwelt im Gespräch‘ zum Weiterdenken anregen,“ so Thilo Hofmann. Wer die Veranstaltung verpasst hat, kann in Kürze ein Kurzvideo auf dem Youtube-Kanal der Universität Wien nachschauen, das vom Graphic Recorder Camilo Melgar angefertigt wurde, welcher die Veranstaltung visuell mit seinen Zeichnungen begleitet hat.